Gymnasium der Zukunft – ein Mehrwert?
Wie schon bei der Neugestaltung des Lehrplans 21 will der Kanton St. Gallen wiederum eine Vorreiterrolle beim Umbau des Gymnasiums übernehmen. Trotz des mittlerweile unübersehbaren Bildungsabbaus – insbesondere in den Grundlagenfächern Deutsch und Mathematik – und weiteren negativen Auswirkungen, soll nun auch das Gymnasium ähnlich umgestaltet werden.
Lisa Leisi, Präsidentin EDU Kanton St. Gallen
Ohne Notwendigkeit und nicht von den Lehrern gewünscht, wie auch von Hochschulprofessoren kritisiert, will eine Arbeitsgruppe des Bildungsrates im Verbund mit dem Amt für Mittelschulen (AMS) massive Änderungen durchdrücken. Was auf nationaler Ebene durch die Weiterentwicklung der gymnasialen Maturität (WEGM) langsam Form annimmt, soll im Kanton St. Gallen bereits im Vorfeld getestet werden.
Die Arbeitsgruppe hat seit 2018 ein Strategiepapier entwickelt, welches erst 2022 den Lehrern vorgestellt wurde. In einer Anhörung 2022 und einer Vernehmlassung 2023 konnten Einzelpersonen und Verbände Stellung nehmen, was sie auch ausführlich wahrnahmen. Die Antworten können auf der Homepage des AMS unter dem Stichwort «Gymnasium der Zukunft» eingesehen werden. Die Änderungsvorschläge wurden gelesen und in kleinen Teilen berücksichtigt, an der Stossrichtung wurde jedoch nichts geändert. In einem Parforceritt sollen nun die neuen Stoffpläne erstellt werden, alles unter dem Motto der «Entrümpelung» bzw. «Entschlackung», was auch immer das heissen soll, so dass das gesamte Projekt im August 2026 erstmals umgesetzt werden kann.
Bereits jetzt haben sich erhebliche Schwierigkeiten beim Erstellen der zukünftigen Stundenpläne ergeben. Eine Arbeitsgruppe soll hier helfen. Befürchtet wird allerdings von Lehrerseite, dass ein «Murks» herauskommt, nur damit das Projekt durchgeführt werden kann.
Schüler in der Verantwortung
Schon jetzt arbeiten die Schüler an den St. Galler Kantonsschulen mit Laptops und Tablets. Stolz wurden sie vom abgetretenen Erziehungsdirektor Stefan Kölliker auch «digitale Schulen» genannt. Da auch die Handynutzung während des Unterrichts nicht untersagt ist, ist die Ablenkungsquote der Schüler selbstverständlich sehr hoch. Kaum einer ist während der Stunden noch vollumfänglich präsent, so dass die Lernleistung der Schüler sinkt. Da die Lehrer nur auf Laptopdeckel starren, können sie schwer überprüfen, in welchen Programmen ihre Schüler surfen. Sie müssten eigentlich von der Rückseite der Schulzimmer unterrichten, um zu sehen, welche Seiten die Schüler gerade geöffnet haben. Dies verbietet sich jedoch, will man einen effizienten Unterricht führen.
In Zukunft sollen die Schüler mit zunehmender Ausbildungsdauer in speziell geschaffenen «flexiblen Unterrichtsformaten», die pro Fach einen neuen wöchigen Blockunterricht von vier Lektionen am Stück vorsehen, vermehrt selbst bestimmen, was sie lernen, wie lange sie dafür brauchen, wann sie bereit sind für Prüfungen, ob sie diese wiederholen möchten und ob es einen Kompromiss braucht bei der Notengebung. Die Präsenzpflicht soll reduziert, dafür der Onlineunterricht verstärkt werden. So lassen sich im Endeffekt auch zwei Klassen parallel unterrichten, eine im Zimmer, die andere zu Hause an den Geräten. Die Erarbeitungsphase (das eigentlich Spannende am Unterrichten, wobei im Unterrichtsgespräch immer wieder neue Aspekte durch Schülerbeiträge einfliessen und angeregt werden) sollen die Lehrer durch Video-Tutorials abdecken, die sie jedes Jahr wiederholt einsetzen können. In die Schule kommt man nur noch, um die Aufgaben zu vergleichen und zu kontrollieren oder um Fragen zu stellen. Diese Unterrichtsmethode nennt sich «flipped classroom». Somit wird der Lehrer – zugespitzt gesagt – zu einer gut bezahlten Hausaufgabenhilfe degradiert. Damit sollen die Selbständigkeit und die Selbstverantwortung der Schüler gefördert und gestärkt werden. Die Klassenlehrpersonen sollen mehr zu Koordinatoren werden, was ihre Rolle «stärke».
Überprüft werden sollen neu auch überfachliche, personale und soziale Kompetenzen. Damit ist das Lern, Arbeits- und Sozialverhalten gemeint. Eine objektive Beurteilung dürfte schwierig und die Gefahr einer Gesinnungsschulung dafür umso grösser sein.
Vielfältige Lerngefässe
Das Methodenrepertoire soll erweitert werden, damit digitale Inhalte in die Unterrichtsgestaltung einfliessen können. Es soll eine Kombination von Präsenz und Onlinelernformaten geben. Das sogenannte Lernnavi, ein digitales Unterrichts- und Übungsportal, soll die Vermittlung der basalen fachlichen Kompetenzen in Mathematik und Deutsch übernehmen. Damit müssen die Schüler sich diese Inhalte selbst beibringen, womit der Kanton Unterrichtslektionen spart (Deutsch zwei Lektionen, Mathematik eine Lektion). Es sollen projektartige und interdisziplinäre Arbeiten gefördert werden. Man möchte wegkommen von den 45-Minuten-Lektionen. Der Unterricht soll individualisiert und «kompetenzorientiert» (Fokus auf Output) stattfinden. Das Ziel sei, wie gesagt, eine «Entrümpelung des Lehrplans», sprich Abbau des Inhalts. Es soll keine vollständige Bearbeitung eines Stoffgebietes – etwa im Geschichtsunterricht – stattfinden, sondern nur noch die Bearbeitung einiger typischer Beispiele. Angestrebt werden dank dem sogenannt «exemplarischen Lernen» Zeitgewinn, Reflektionen der eigenen Lernprozesse und der Aufbau von Lernstrategien, womit diese «gegenstands- und situationsbezogen ausgewählt und konstruktiv eingesetzt werden können» – wenigstens in den Idealvorstellungen der Entwickler. Hinzu kommt neu das Fach «reflektiertes Denken», was je nach Anbieter viel mit Gesinnung und weniger mit dem Beleuchten aus verschiedenen Blickwinkeln zu tun haben dürfte.
Aufwand und Ertrag?
Der Aufwand für die Lehrer dürfte nicht weniger werden für die individualisierten Lernfelder, Begleitungen und Prüfungen. Gleichzeitig werden durch die Reduktionen der Lektionen vermutlich die Verdienste zurückgehen, da auch Einsparungen erwartet werden.
Dabei dürften gerade durch die Projektarbeiten die unterschiedlichen zeitlichen Belastungen für Lehrer, die vielleicht nur zu einem 50-Prozent-Pensum angestellt sind und familiäre Aufgaben haben, ein grosses Problem werden.
Auch für viele Schüler dürften die verschiedenen Lernformen und die zunehmende Selbstverantwortung eine Überforderung sein und die Belastungen für den Lernerfolg bei verschiedenen Projekten gleichzeitig zu- und nicht abnehmen, wie suggeriert wird.
Die Gefahr ist gross, dass schliesslich die meisten Schüler nicht mehr eine solide Vorbildung für ein Studium mitbringen werden. Für die Lehrer kann es chaotisch und unübersichtlich werden mit dieser angestrebten Individualisierung, aber dann sind ja die Schüler, laut Strategiepapier, für die Misserfolge im Lernen selbst verantwortlich.
Wie beim Lehrplan 21 dürfte die Theorie der Praxis nicht standhalten. Damit wird nun auch die Ausbildung an den Gymnasien zunehmend infrage gestellt und damit viel Bewährtes vorbei an demokratischen Prozessen zerstört.